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2022-09-09 21:24:11 By : Mr. Andrew Wei

Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Guten Morgen aus Riga, liebe Leserin, lieber Leser,

Europa schaut auf die Ukraine: Greift Putin an – falls ja, wann? Sind seine mehrdeutigen Antworten auf der Pressekonferenz mit Olaf Scholz ein Entspannungssignal oder eine Finte? Handelt der Kreml überhaupt noch rational oder ist er längst im Angriffsmodus gefangen? Eine Eilmeldung jagt die andere, Handys piepen, Diplomaten rotieren. Trotzdem wirken Kiew und Lwiw aus deutscher Sicht weit weg: irgendwo im Osten, hinter Polen, der Slowakei, Ungarn, Rumänien und … wie heißt noch das kleine Land dahinter?

Man tritt wohl niemandem zu nahe, wenn man feststellt, dass sich die meisten Deutschen eher gen Westen als nach Osten orientieren. Dass sie zwar wissen, wo Marseille und Barcelona liegen, aber ins Schlingern geraten, wenn sie auf der Landkarte Charkiw oder Dnepropetrowsk zeigen sollen. Die Westorientierung der Bundesrepublik ist eine Folge des Kalten Krieges, so wirkt er bis heute nach. Europas heutige Konflikte lassen sich aber nur lösen, wenn wir dem Osten mehr Aufmerksamkeit schenken. Und dafür muss man die Historie kennen.

Keine tausend Kilometer nördlich der Ukraine liegt Lettland, das in diesen Tagen sein hundertjähriges Verfassungsjubiläum feiert: kleiner als Bayern, keine zwei Millionen Einwohner, aber strategisch wichtig an der Ostflanke der EU gelegen. Im mittleren der drei baltischen Staaten sind die Wurzeln, Brüche und Folgen osteuropäischer Zeitläufte offensichtlich. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist hierhergereist, um eine Konferenz anlässlich der Verfassungsfeier zu beehren, aber natürlich geht es vor allem um die russische Aggression gegen die Ukraine. Und es geht um die Historie.

Wie viel diese Geschichte mit Russland und Deutschland zu tun hat, dürfte den meisten Bundesbürgern nicht bewusst sein. Im Zweiten Weltkrieg wurde Lettland zum Spielball der Diktatoren in Berlin und Moskau: Der Hitler-Stalin-Pakt schlug das Land der Sowjetunion zu, Hitler ließ Zehntausende Deutschbalten umsiedeln. 1940 besetzte Stalin Lettland und ließ Zehntausende Menschen deportieren. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941 marschierte die Wehrmacht in Riga ein. In ihrem Rücken folgten die Todesschwadronen der Nazis.

Deren Chef Friedrich Jeckeln hatte Erfahrung im Morden: Im ukrainischen Kamenez-Podolsk und in der Kiewer Schlucht Babi Jar hatte der SS-Obergruppenführer aus Freiburg im Breisgau kurz zuvor mit seinen Männern an fünf Tagen mehr als 55.000 Juden massakriert. Nun bekam er von Heinrich Himmler den Befehl, Rigas jüdische Bevölkerung auszurotten. Er machte sich sofort ans Werk: Nahe der lettischen Hauptstadt entdeckte er einen Wald mit sandigem Boden, dort ließ er Gruben ausheben. Dann schwor er seine Männer ein, darunter SS-Leute, gewöhnliche deutsche Polizisten und lettische Hilfspolizisten: Die "Vernichtung der Juden" sei eine "vaterländische Pflicht".

Um vier Uhr morgens am 30. November begannen sie, das Ghetto von Riga zu räumen, trieben Frauen, Alte und Kinder in den Wald von Rumbula. Sie befahlen den Menschen, sich bis auf die Unterwäsche zu entkleiden. Gerichtsakten aus dem Fritz-Bauer-Archiv schildern, was danach geschah: "In den Gruben mussten sich die Juden mit dem Gesicht nach unten nebeneinander hinlegen. Aus kurzer Entfernung wurden sie durch Genickschüsse aus russischen Maschinenpistolen getötet. Die nachfolgenden Opfer mussten sich auf die soeben vor ihnen Erschossenen legen." Als Stunden später die letzten Schüsse verhallten, waren 15.000 lettische und weitere tausend aus Berlin verschleppte Juden tot. Tage später folgte ein weiteres Massaker, diesmal waren es 12.500 Opfer. "Niemand entkommt lebendig aus unserem Kessel!", soll einer der Mörder gerufen haben.

Auf die physische Vernichtung folgte die Auslöschung der Erinnerung: Nach dem Krieg versuchten die Sowjets, die russischen und deutschen Verbrechen an den Letten totzuschweigen. Erst seit 20 Jahren gibt es im Wald von Rumbula eine Gedenkstätte, die an einen der größten Massenmorde des NS-Regimes erinnert. Eine weitere Gedenkstätte besucht der Bundespräsident heute: Sie ehrt den lettischen Hafenarbeiter Žanis Lipke, der mehr als 50 Juden in einem Bunker versteckte und vor dem Tod bewahrte. Er hatte hautnah erlebt, wie Nazi-Schergen Juden aus ihren Wohnungen prügelten:

"Ich stand entsetzt in einer kleinen Menschenmenge am Zaun des Ghettos und beobachtete, was hinter dem Stacheldraht vor sich ging", erzählte er später. "Es herrschte blankes Chaos. Einige Ghetto-Insassen zogen Koffer hinter sich her, andere trugen Babys in den Armen oder schoben Kinderwagen. Unterdessen schrien betrunkene Polizeikräfte aus vollen Kehlen, zogen Menschen aus ihren Wohnungen und schlugen auf sie ein. Ein Polizist schoss blind in die Menschenmenge. Es schien keine Rolle zu spielen, wen er traf. (…) Für mich und für alle anderen, die sahen, was vor sich ging, war klar, dass die Menschen zusammengetrieben wurden, um abgeschlachtet zu werden."

In Deutschland sind der deutsche Massenmord im Wald von Rumbula und Stalins Verbrechen an den baltischen Bevölkerungen vielen Bürgern nicht bekannt. In Lettland sind sie Teil des kollektiven Bewusstseins. Auch so erklärt sich der unbedingte Drang der Letten, ihre mühsam errungene Freiheit gegen Aggressionen von außen zu verteidigen. Es ist ein Selbstbewusstsein, das man vielerorts in Osteuropa antrifft, ob im Baltikum, in Polen oder in der Ukraine. Dass der Bundeskanzler und der Bundespräsident diese Länder sichtbar unterstützen, ist mehr als eine politische Aufgabe. Es ist eine historische Verpflichtung. Das sollte man im Nachrichtengewitter dieser Tage nicht vergessen.

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"Es ist unsere verdammte Pflicht und Aufgabe, als Staats- und Regierungschefs zu verhindern, dass es in Europa zu einer kriegerischen Eskalation kommt."

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Endlich ist das Geheimnis von Putins langem Tisch gelüftet!

Ich wünsche Ihnen einen tollen Tag.

Florian Harms Chefredakteur t-online E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

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